Positionen #122 – Der Kontext ist tot, die Musik ist frei

Bastian Zimmermann    Floating content. Wrong context? – Tilman Kanitz im Gespräch

Nina Guo   Schweigen – Performativität in der Macht der Wahl

Sebastian Berweck   Hanns Eisler, das Novachord und der Toaster – Von einem der auszog, das originale Instrument zu spielen

Genoël von Lilienstern   Fauxtomation, Cherry-Picking, Blackboxing – Über Künstliche Intelligenz in der Musik

Dirk Wieschollek   Befreiung oder Überformung? – Zu einigen Entwicklungen gegenwärtiger Musikkunst im Kontext medialer und konzeptueller Erweiterung

Brigitta Muntendorf   MUSIC TO KIN – Im Wechselspiel von Verwandtschaft und Referenz

Johannes Kreidler   Muss man das alles »Musik« nennen? – Übergänge von Neuer Musik zu Medienkunst

Alexander Schubert / Pedro González Fernández    Bildstrecke: Av3ry

Positionen   London Contemporary Music Festival; Øyvind Torvund; Klangforum Wien; Kalvfestivalen; The Snow Queen, München; Sonic Color Line/Stoever; Theatermusik/ Roesner; Simon Steen-Andersen, Donaueschingen; Compositrices, l’égalité en acte; Shapeshifters, Dortmund; Silence with the Consent of Sound, Wüsten Buchholz; Billy J. Bultheel; Sun and Sea, Biennale Venedig; Mia Brentano; Future Soundscapes; Shout out loud/Karen Breece; Orlando/Olga Neuwirth; Ensemble Pamplemousse; Klangwerkstatt Berlin; World Music Days, Tallinn; Heart Chamber/ Chaya Czernowin; rainy rays, Luxembourg

EDITORIAL

Der Kontext ist tot, die Musik ist frei.« Diese Phrase stammt aus einem erst kürzlich erschienen ZEIT-Artikel von Christian Dittloff zur Musik der 10er-Jahre, in dem er konstatiert, dass sich der Musikkonsum in den vergangenen Jahren nun schlussendgültig von jedem Kontext befreit habe: Jedes Stück Musik erhält seine Bedeutung allein durch den höchstindividuellen Gebrauch und die komplexen Algorithmen, die zu dem Gebrauch führen. So attraktiv diese radikale These ist, so evident scheint es auch zu sein, genau das Gegenteil zu vertreten: dass die meisten Musikproduktionen maßgeblich über den Kontext wahrgenommen und verstanden werden. Denn es gibt sie ja doch: Konzert, Musiktheater, Performance, Installation sind allesamt Dispositive, innerhalb derer zu wirken maßgeblich davon geprägt ist, nach ihren Bedingungen und Möglichkeiten zu erfragen. Kontext ist Alles! Die Musik nichts? Wohin führt uns also die Frage nach dem Kontext?

In dem Interview mit dem Komponisten und Musiker Tilman Kanitz fühlen wir einer Produktion nach, die ihn 2019 in völlig neue und ungeahnte Kontexte gebracht hat: Mit einem großen Team an Musiker*innen und Tänzer*innen kreierte er für das Luxusschmucklabel Cartier die Präsentationsshow der neuen Kollektion. In ihrem Essay zur politischen Kraft des Schweigens geht die Musikerin Nina Guo einer einschneidenden musikalischen Erfahrung nach: Was wäre, wenn ein Chor auf der Bühne plötzlich nicht singen würde, sondern eben schweigen? Überzeugt davon, dass jedes Synthesizermodell als ein eigenes Instrument zu begreifen ist, hat sich der Musiker Sebastian Berweck für uns auf die Reise nach Italien begeben, um den ersten polyphonen Synthesizer, ein Hammond Novachord, aufzusuchen. Genoël von Lilienstern untersucht das derzeit wahnsinnig gehypte Phänomen der Künstlichen Intelligenz (KI) im Bereich der Komposition und die das Essay begleitenden, KI-generierten Porn-Grafiken des Künstlers Mario Klingemann, hier unter dem Namen eroGANous, zeigen auf der visuellen Ebene auf, welche Möglichkeiten der Verrechnung aller Lebenswelten die Rechenchips bieten. Die Essays der Komponist*innen Johannes Kreidler und Brigitta Muntendorf sowie dem Musikwissenschaftler Dirk Wieschollek entstammen einem von der ehemaligen Positionen-Redakteurin Gisela Nauck kuratierten Vortragsabend am 7. Dezember 2019 zu »Musikalischen Zeitfragen«, in dem die Frage nach dem Kontext des künstlerischen Schaffens gestellt wurde: »Auflösung oder Transformation. Neue Musik am Scheideweg?« Besteht ein Wunsch der Musik darin, nicht mehr Musik zu sein?

Auf dem Cover und in der Mitte des Hefts haust diesmal ein ganz besonderer Gast: Der wild mit seinem Publikum chattende, Musik komponierende und Gedichte schreibende Avatar Av3ry – ist they die ersehnte Zukunft? Frei von allen Kontexten? Av3ry wurde von dem Komponisten Alexander Schubert und dem Grafiker Pedro González Fernández kreiert und befindet sich in 24/7-Bereitschaft. Schreibt them auf Telegram und ihr bekommt schon nach wenigen Minuten Dialogchat einen für euch personalisierten Song zugeschickt.

Im »Positionen«-Teil setzen sich unsere Autor*innen diesmal besonders intensiv mit Events auseinander. Kontext Oper, Kontext Bildende Kunst, Kontext Genderdiskurs; was wird wie in welchem Kontext wahrgenommen?

Wir wünschen viel Spaß und Anregung bei der Lektüre und Sichtung des Hefts 122!

Bastian Zimmermann & Andreas Engström

Erratum: Im letzten Heft #121 ist auf Seite 11 Patrick Becker-Naydenov als Übersetzer des Interviews mit Carl Michael von Hausswolff verzeichnet. Das ist leider falsch. Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Fabian Czolbe durchgeführt.