Musiktheater

Berlin is not Bayreuth

glanz&krawall

23.–25. August 2019, Berlin

And the beat goes on. Immer weiter. Immer gleich. Ohne stolpern, ohne stocken. Die Menge tobt. Die Menge tanzt. Zu Hip-Hop und Schlager, zu Elektro und Pop. Denn egal, wer dort steht, er ist uns ganz nah, die Hypnose setzt ein und macht ihn zum Star. Ist es der da, der da am Eingang steht? Oder der da, der mir den Kopf verdreht?

Die Musik, schrieb 1991 der französische Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe, habe einen enormen Einflussauf unser Denken. Sie wirke in der heutigen Welt viel grundlegender als die Bilder, wenn es um die Disziplinierung unserer Köpfe gehe. Der Verantwortliche dafür sei recht klar zu benennen: Richard Wagner.

An Disziplin denkt zunächst wahrscheinlich niemand, der an diesem Sommerabend das verwunschene Gelände der B.L.O.-Ateliers in Berlin-Lichtenberg betritt. Und an Wagner sicherlich auch nicht. Vorbei an auratisch bröckelnden Gebäuden, passiert man zunächst einen Platz, der an ein Volksfest erinnert: Es gibt Buden mit Gegrilltem sowie Getränke an einem Stand namens Bar-Kunin. Erst im hinteren Bereich, versteckt hinter Bäumen und Büschen, tauchen bei längerer Suche die Spielorte auf: indoor der Venusberg sowie outdoor die Wartburg, Little Italy, der Festplatz. Berlin is not Bayreuth nennt sich das dreitägige Festival des Berliner Musiktheaterkollektivs glanz&krawall, das gemeinsam mit Performer*innen aus der freien Szene, dem Berliner Rapper Romano sowie den Elektromusikern Tanga Elektra und Melentini angetreten ist, das Denkmal Richard Wagners zu schleifen.Was sich zunächst wie ein kraftmeierischer Sockelsturz anhört – »Berlin is Not Bayreuth versucht das, wovor sich alle klassischen Bühnenweihspiele dieser Welt gruseln«, hui! – gestaltet sich während der sechs Stunden Spieldauer auf dem Areal der ehemaligen DDR-Reichsbahn zueiner musiksoziologischen Untersuchung, die direkt hinein führt in das dunkle Herz der (Pop)-Musik.

Als Spielmaterial, dem sich die beteiligten Künstler*innen in Gänze oder Ausschnitten widmen, haben sich die beiden Köpfe von glanz&krawall, Marielle Sterra und Dennis Depta, den Tannhäuser ausgesucht, Richard Wagners Künstleroper schlechthin, in der ein genialer, aber unverstandener Sänger durch die Lande zieht, um den Menschen die wahre Kunst zu bringen, kurz gesagt: Wagner himself, bei dem sich künstlerisches Sendungsbewusstsein mit radikal-politischem Denken koppelte. Als Zeuge der Revolutionen von 1848 – im Februar veröffentlichten Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest – war der damals 35-jährige Richard Wagner elektrisiert von der Ideegesellschaftlicher Umwälzungen. Die Begegnung mit Michail Bakunin, dem charismatischen »Feuerteufel« der Revolution, offenbarte ihm die Mittel dazu: Brenne alles nieder, soll ihm der Anarchist 1849 geraten haben. Er werde dann nicht mehr so viele Instrumente brauchen, aber das werde gut sein. Ob Wagner angesichts brennender Geigenberge erblasste, ist nicht überliefert. Wohl aber sein erstes Konzept für ein Festspielhaus. Für den »Siegfried«, so schrieb er 1850 an seinen Komponistenfreund Theodor Uhlig, »würde ich auf einer schönen Wiese bei der Stadt von Brett und Balken ein rohes Theater ... herstellen … natürlich wie alles Entrée: gratis! … so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des ›Siegfried‹ in einer Woche stattfinden: nach der dritten wird das Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt.«

Es kam, freilich, nicht dazu. Bayreuth sieht heute ganz anders aus. Klar, dass glanz&krawall diese Revoluzzer-Pose freudig zitieren. Alles wirkt lässig und temporär an diesem Abend, einiges auch schlicht parodistisch. Da sich glanz&krawall mit Das Helmi, Cora Frost und Vanessa Stern aber Experten des anarchischen Quatsches eingeladen haben, liegt hinter dem Spaß auch der Ernst. Auf dem Venusberg von Vanessa Stern etwa sehen sich drei gruselige Nymphen mit grotesk schiefen Zähnen (Stephanie Petrowitz, Ines Hu und Vanessa Stern) mit Wagners Maximalforderungen für das Bühnenbild konfrontiert. Man erkennt: Diese Revolution ist für freie Künstler*innen schlicht unerschwinglich. Draußen wird auf ein Hausdach derweil der Name Klaus Lederer projiziert. Ohne Berlins Kultursenator geht es eben auch nicht. Das Festival wurde komplett vom Hauptstadtkulturfonds finanziert – »Anarchie« von Staates Gnaden.

Für die Mitläufer*innen im System war das Andere der Kunst trotzdem immer schon ein Versprechen, eine Welt außerhalb der eigenen, eine Welt außerhalb der Wartburg. Diese besteht im »Tannhäuser«-Part von glanz&krawall aus einem Campingplatz, auf dem die »ritterlichen« Regeln des Spießbürgertums herrschen: Ordnung, Reinheit, Abgeschlossenheit. Die Schlagermusik, die hier konsumiert wird, bildet die systemstabilisierende Grundierung dazu. Hits wie Andrea Bergs Ab sofort wird gelebt kanalisieren jegliche Ausbruchssehnsucht in einen fröhlichen Viervierteltakt, hinter dem, die Umdichtung ins Gegenteil »Ab sofort bin ich tot« macht es deutlich, eine große Lebensmüdigkeit lauert. Schon Wagner bot dafür ein Gefäß.  

Wie verdreht Musik unsere Köpfe? Diese Frage stellt Berlin is not Bayreuth explizit, ohne zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Schlager, Klassik und Rock zu unterscheiden. Denn was zunächst wie ein abfälliger Blick auf den schlagerhörenden Spießbürger aussieht, trifft letztlich auf jeden Musikfan zu. Spricht Lemmy Kilmister, Sänger von Motörhead, davon, wie er den Wohnwagen packte und abfackelte (»Eine richtige Wikingerbestattung« – Zitat im Programmheft), ist auch das nur eine gut vermarktbare Pose. Was sind das für Helden, an die wir unser Herz und unsere Sehnsüchte hängen? Und was erzählt das über uns?

Friedrich Nietzsche hatte Wagner vorgeworfen, ein Komödiant zu sein, ein Selbstdarsteller, der wie eine Hysterikerin die überreizten Sinne der Jugend errege. »Die armen Tröpfe bilden sich ein, durch etwas Ungeheures berauscht zu sein, es sei aber nichts dahinter, alles Theater.« Dennoch ist unsere Sehnsucht nach diesem Theater groß. Der Rapper Romano ist in diesem Sinne die faszinierendste Figur an diesem Abend. Einst als Schlagerstar gestartet,schwenkte er, als der Schlager nicht mehr zog, kurzerhand um auf Rap. Fake it,until you make it. Paradoxerweise ist es gerade er, dieser jungenhafte Typ mit den langen Haaren einer heißen Blondine, dem man die Wut des Künstlers auf das System ernsthaft abnimmt. Sein Tannhäuser 2.0 ist eine Kreatur des Dazwischen, die vom Schlager (»Elisabeth, Elisabeth – Du Croissant und ich Baguette.«) übergangslos zum Gangsterrap wechselt (Mir ist scheißegal, ob’s euch passt. Erst schmerzt das Herz, dann brennt der Palast). Der französische Philosoph Alain Badiou hatte in seinem 2012 erschienen Buch »Fünf Lektionen zum ›Fall‹ Wagner« zu einer Verteidigung Richard Wagners ausgeholt. Ein wichtiger Aspekt war dabei »Das Drama der Differenz«. Ohne die Kritik an Wagner zu relativieren, sah er in dessen Musik eine Kunst der Zerrissenheit. Sein »Tannhäuser« sei massiv und gebrochen zugleich, als zeige ein Monument Risse. Dieses Monument sei der Titelheld selbst, das Subjekt, Tannhäuser als Ruine.

Romanos Tannhäuser ist eine 2.0.-Version dieser Figur: Ein Star des Marktes und der Medien (»Ihr edlen Ritter – auf Facebook und Twitter. Predigt Toleranz, doch seit im Netz nur Denunzianten«), der das Spiel schmerzhaft durchschaut: »Was für ein wunderbares Fest. Vorm Gesicht ne Maske, auf dem Kopf ein Vogelnest. Kleider machen Leute, doch der Inhalt am Verwesen, stumpfe Sprüche, scharfe Bräute, ausladende Gesten.«

Die wahre Kunst, dafür plädiert Badiou, ist eine Kunst der Dissonanzen, Übergänge, Unvereinbarkeiten. Sie kann Massen hypnotisieren, aber auch Risse produzieren. Die Wahrheit ist letztlich etwas Unabgeschlossenes. Das ist auch der Glutkern dieser Festivalkomposition, der durchaus auch politisch gedacht wird. Auf dem gezeichneten Festspielplan sehen wir, dass, wer sich links ins Gebüsch schlagen würde, den »linken Rand« erreicht, rechts befindet sich dementsprechend der »rechte Rand«, die Festivalgäste changieren irgendwo dazwischen. »Wir wandern schon seit tausend Jahren, immer unter neuen Namen.« Mit diesen Worten verabschiedet sich der Tannhäuser 2.0 ins Jenseits. Ein Schluss ohne Schluss. And the beat goes on.

Bildcredit: © Ralf Stiebing, BERLIN is not BAYREUTH

Dorte Lena Eilers
Dorte Lena Eilers ist 1978 in Bremen geboren und arbeitet als Kulturjournalistin und Redakteurin von Theater der Zeit in Berlin.